Sprung in die Freiheit

Jupp Angenfort
Sprung in die Freiheit
Die Geschichten des Josef A., herausgegeben von Hannes Stütz
PapyRossa Verlag
1. Auflage 2010, 17,50 Eur0
Der Sprung in die Freiheit

Ausführliche Renzension in Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung September 2011
von Hermann Krüger

Der Sprung in die Freiheit
Hermann Krüger zu Hannes Stütz

Sprung in die Freiheit. Die Geschichten des Josef A. Herausgegeben von Hannes Stütz, PapyRossa Verlag, Köln 2011, 232 S., 17 Euro

Dies ist eine Rezension besonderer Art, denn ich schreibe sie als „Betroffener“. Der Lebensweg von Jupp – aus einer katholischen, kleinbürgerlich-demokratischen Familie stammend, der Vater Zentrumsanhänger in der Weimarer Zeit und Nazigegner aus humanistischen, christlichen Motiven – war gekennzeichnet durch die Widersprüche seines Weltbildes zur Naziherrschaft. Er selbst sagt: „Wahrscheinlich waren bei mir die Umstände, mich dem Antifaschismus zu nähern und der Ablehnung der Nazis, auch der totalen Ablehnung der Nazis näher zu kommen, günstiger als bei manchem anderen.“ (20)

Mein Lebensweg war dagegen mehr durch den Leidensweg meiner Eltern als Kommunisten und konsequente Antifaschisten gekennzeichnet. Ich wurde als jüngstes von drei Kindern 1930, also sechs Jahre später als Jupp, geboren und erlebte die Zeit der Naziherrschaft mehr im Kindesalter. Das hatte aber trotzdem prägenden Einfluss auf mein Denken, da unser Vater 1933 verhaftet wurde, vier Jahre im KZ Esterwegen und Sachsenhausen verbrachte und dann bis Kriegsende dienstverpflichtet war.

Offenbar hat sich Jupp sehr früh seine eigene Meinung über das Unrecht des Faschismus gebildet und innere Barrieren dagegen aufgebaut, die ihn vor faschistischer Euphorie schützten. Aber unser gemeinsamer Lebensweg ging schon in die gleiche Richtung. Er führte schließlich in die Kommunistischen Partei – Jupp nach seiner Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1949, ich im Dezember 1946 zu Stalins Geburtstag.

Wie der Herausgeber des Buches „Sprung in die Freiheit“ schreibt, ist es keine Biographie von Jupp, aber doch ein wesentlicher Bestandteil davon. Jedenfalls fühle ich mich ihm im Nachhinein schon seit Kindheit irgendwie verbunden und habe großen Respekt vor ihm gehabt, dass er diesen Lebensweg gefunden hat. Das Großartige an den Geschichten des Josef A. ist die „Selbstbefreiung“ von faschistischem Gedankengut, wozu sicher auch der geistige „Freiraum“ gehörte, den ihm seine Eltern mit auf den Weg gegeben hatten.

Der Buchtitel „Sprung in die Freiheit“ bezieht sich, denke ich, auf seine sensationelle Flucht aus dem Gefängnis in München. Beim Lesen des Buches habe ich jedoch den entscheidenden Sprung in die Freiheit bereits in seinem „Sprung“ aus dem Schützengraben vor Leningrad am 7. Oktober 1943 gesehen. Er war kein „Überläufer“, sondern ein „Gefangener der faschistischen Ideologie“, unter der er litt. Seine Gefangennahme durch Rotarmisten war für ihn eine Art Befreiung aus einer Sackgasse. Jawohl – Jupp hatte damit nicht nur die Kriegsfronten gewechselt, sondern auch seine „Weltanschauungsfront“, er hat der Nazihetze von den „bolschewistischen Untermenschen“ nicht geglaubt und in der Sowjetunion den Befreier vom Faschismus erkannt. Bei ihm war es kein Opportunismus, dass er auf die Antifa-Schule der Kriegsgefangenen ging, sondern eine Wende in seinem Leben. Das war es auch, was ihm später die großen Sympathien in der KPD, der FDJ und bei vielen Antifaschisten aus allen Bevölkerungsschichten einbrachte. Für uns war die Niederlage des Faschismus die Befreiung, ein Neubeginn für eine friedliche und sozial gerechte Weltordnung – wir waren euphorisch für eine friedliche und sozialistische Zukunft.

Um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: Hier trafen unsere Lebenswege zusammen – für immer. Auch mein Austritt aus der DKP im Jahre 1990 hat daran nichts geändert. Damit komme ich auf das besondere Verhältnis, das ich zu Jupp Angenfort hatte. Dies hängt mit seinem „Sprung in die Freiheit“ im Jahre 1962 in München zusammen. Wie er in dem Buch erwähnt, gehörte ich zu den mit ihm verhafteten Genossen und saß mit ihm zusammen in München-Stadelheim im Gefängnis. Ich hatte mir schon um Jupp viele Gedanken gemacht, weil ich ja wusste, dass er schon Jahre im Zuchthaus verbracht hatte und nun sicher mit noch härterer Bestrafung rechnen musste. Ich war sehr besorgt, ob ich oder ein anderer unserer Gesprächsrunde beobachtet worden war und dadurch die Polizei mitgebracht hatte. So etwas ist ja in der Illegalität schnell möglich. Wir mussten uns immer vorher „absichern“, um die anderen nicht zu gefährden. Umso mehr freute ich mich, als ich von der Flucht Jupps erfuhr, und zwar auf folgendem Wege: Ich war in Einzelhaft als Untersuchungsgefangener und hatte ein Zeitungsabo für die „Frankfurter Rundschau“. Es muss wohl der 5. April, ein Tag nach der Flucht, gewesen sein, als ich die Zeitung las und feststellte, dass auf einer Seite etwas ausgeschnitten war. Nanu – dachte ich – das kann ja nur etwas sein, was ich nicht wissen darf, also etwas für mich besonders Wichtiges. Wenn ich mich noch richtig entsinne, habe ich meinen Schließer (Wachtmeister), den ich als einen anständigen Menschen kennen gelernt hatte, gefragt, was dies zu bedeuten hätte, und von ihm dann die Botschaft erhalten: Der Angenfort ist geflüchtet! Es war also kein „Gerücht“, sondern eine für mich offizielle Information. Ich war in Feierstimmung und habe laut vor mich hingeredet oder gesungen! (siehe auch S. 188) Bald erfuhr ich dann schriftlich, dass ab nun der weitere Prozess nicht mehr unter der Anklage gegen „Angenfort u. a.“, sondern gegen „Krüger u. a.“ weiterlief. Die gelungene Flucht von Jupp war für die noch Inhaftierten eher von Vorteil, da jetzt der Hauptangeklagte fehlte und von den noch Inhaftierten keine belastenden Aussagen gemacht wurden. Es ist hier nicht der richtige Platz, nun über mich weiterzuerzählen – ein andermal.

Die einzelnen Abschnitte des Buches sind wie eine dreiteilige Chronologie der Vor- und Nachkriegsentwicklung bis zum Jahre 1969 zu lesen.

Im ersten Teil „Jugend 1924 – 1943“ gibt es, wenn auch nur skizzenhaft, wichtige Antworten auf die Frage, wie die Naziherrschaft die Jugend „kriegsreif“ machte durch politische und ideologische Erziehung, der dann viele auch erlegen sind. Das Verbot der katholischen Jugendbewegung 1935 und die Pflichtmitgliedschaft in der Hitlerjugend, die Gleichschaltung in den Schulen (aber auch die differenzierte Beurteilung der Lehrkräfte), die nationalistische Aufhetzung gegen andere Völker („Volk ohne Raum“), die Reichskristallnacht und die Judenverfolgung 1938, die Militarisierung der Jugend durch Arbeitsdienst und schließlich Rekrutierung für die Wehrmacht – das war der gerade Weg ins Verderben. Jupp sagt: „Ich war nationalistisch beeinflusst und hielt es auch für wichtig, dass Deutschland diesen Krieg gut übersteht. Aber dies schien schon mal nicht gut auszusehen. Mehr konnte ich damals nicht sagen.“ (24)

Die Kriegswende mit Stalingrad, die Verlegung von Jupp an die Ostfront vor Leningrad, das „Leben im Schützengraben“ und schließlich seine Gefangennahme hatten für Jupp die Wende seines Lebens gebracht. An diesem Punkt seiner Entwicklung hat er sich von den vielen Millionen Verführten und Missbrauchten in Deutschland unterschieden.

Im zweiten Teil „Die sowjetische Kriegsgefangenschaft 1943 – 1949“ vollzieht Jupp eine Wende in seinem Leben: In der Sowjetunion erkannte er die Menschenfeindlichkeit des Faschismus und das Unrecht, das man den Menschen der Sowjetunion antat, er sah in der sozialistischen Gesellschaftsordnung der Sowjetunion eine bessere Zukunft. Es mag aus heutiger Sicht, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder, kurzsichtig gewesen sein, diese Zukunft so zu sehen, so könnte man denken – aber dies war in der Tat die antifaschistische Reaktion auf die Naziverbrechen, und das war und bleibt sicher eine geschichtliche Wahrheit. Die Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion war ohne Zweifel kein Zuckerschlecken. In dem von Deutschen zerstörten und geschundenen Land lebten die Menschen z. T nicht viel besser als die Kriegsgefangenen. Sicher gab es auch Hassreaktionen bei sowjetischen Soldaten oder Bewachern, aber Jupp hatte für manches, was er nicht befürwortete, auch ein gewisses Verständnis. So sagte er nach einem solchen negativen Erlebnis: „…ich muss sagen, dass ich bis auf den kleinen Ausrutscher des Hauptmanns sehr vernünftig behandelt wurde. Niemand hat mir etwas zuleide getan. Man hat sogar versucht, kleine Wünsche zu erfüllen.“ (45)

Jupp war ein gründlicher und etwas genauer Mensch und so widmete er sich auf einer Schule für Kriegsgefangene dem Studium des Marxismus und der Geschichte.

Danach war er bis 1949 als Lehrer an einer Antifa-Schule für Kriegsgefangene tätig. Deren Sinn beschrieb er so: „Es waren antifaschistische Schulen, wo es nicht darum ging, den Teilnehmern eine andere Weltanschauung oder eine andere Philosophie nahe zu bringen, sondern wo es darum ging, sie vorzubereiten darauf, nach Möglichkeiten, jetzt im weitesten Sinne des Wortes, antifaschistisch zu wirken in dem Deutschland, in das sie zunächst zurückkehren würden.“ (68) An anderer Stelle: „Und der Sinn der Schule war ja nicht … Kommunisten zu erziehen … (sondern) … Leute davon zu überzeugen, dass man den Naziweg nicht gehen darf. Dass man sich zum Antifaschismus bekennt und … zu anderen Völkern ein vernünftiges Verhältnis, ein solidarisches, internationalistisches Verhältnis zu haben.“ (71) Eine besondere Rolle spielte die Tätigkeit des 1943 in der Nähe von Moskau gegründeten Nationalkomitees Freies Deutschland, dem Hitlergegner bis in hohe militärische Ränge angehörten und das zum Ziel hatte, alle Formen des antifaschistischen Widerstandes zusammenzuführen, um Hitler zu stürzen. Jupp trat diesem Nationalkomitee per Unterschrift bei. Dazu gehörte auch die Unterstützung der Attentäter auf Hitler am 20. Juli 1944 um Stauffenberg und Goerdeler. In der offiziellen Aufarbeitung des antifaschistischen Widerstandes in der Bundesrepublik wird versucht, diese Seite auszugrenzen. (52)

Man muss sich heute vor Augen halten: Zu einem Zeitpunkt, da in Westdeutschland der kalte Krieg begann und die Antisowjethetze wieder nahtlos an die faschistische Ideologie anknüpfte und Gräuelgeschichten aus den Kriegsgefangenenlagern in der Sowjetunion neuen Hass entfachten, als auf Betreiben der westlichen Besatzungsmächte mit Hilfe Adenauers Deutschland wieder zum Vortrupp gegen die Sowjetunion gemacht werden sollte – zu diesem Zeitpunkt hat Jupp in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern antifaschistische Aufklärungsarbeit geleistet! Diese Weitsicht hat sich bis zum heutigen Tage für uns ausgezahlt.

Mit seiner Rückkehr nach Düsseldorf nach sechs Jahren Kriegsgefangenschaft und antifaschistischer Aufklärungsarbeit beginnt der dritte Abschnitt seiner Aufzeichnungen zu den Jahren 1949 bis 1969. Es war die Zeit des kalten Krieges und der Restauration im Westen, die schließlich nach der Gründung der Bundesrepublik zur erneuten Wiederaufrüstung führte. Wenn man dieses Buch heute liest, dann wird klar, welche Chancen Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg verpasst hat, obwohl das Grundgesetz eine andere Entwicklung ermöglicht hätte.

Die Remilitarisierung war der Sündenfall der Nachkriegsgeschichte. Sie stieß auf erheblichen Widerstand in der Bevölkerung. Die „Ohne uns“-Bewegung unter der Jugend hatte breiten Widerhall gefunden. Jupps Auftritt gegen den ehemaligen Nazi-General Manteuffel, der die neue Bundesarmee aufbauen sollte, brachte ihm die erste Anklage wegen „Rädelsführerschaft“ und „Landfriedensbruch“ ein (85/86).

Die von Jupp Angenfort durchgemachte Hölle von Faschismus und Krieg war noch nicht vorüber, denn das Eintreten gegen Remilitarisierung und Notstandsgesetzdemokratie unter Adenauer führte zu erneuter Verfolgung – wie 1933 zuerst der Kommunisten. Jupp Angenfort musste erleben, wie Schuldige am Faschismus, vom Staatssekretär Globke über den Nazi-Scharfrichter und Ministerpräsident Filbinger bis hin zum Zuchthausdirektor, wieder in Amt und Würden waren.

Jupp wurde als Vorsitzender der „Freien Deutschen Jugend“ fast zum Symbol einer Jugend, die vom Krieg die Nase voll hatte, die Frieden und Ausbildung wollte und Freundschaft mit allen Völkern. Darum musste die FDJ verboten werden. Jupp erhielt über fünf Jahre Zuchthaus und Gefängnis. An ihm wurde das Exempel statuiert, um den Widerstand gegen die Restauration zu brechen. Mit dem Verbot der KPD 1956 trat die Verfolgung politisch Andersdenkender in der Bundesrepublik in eine neue Phase, die viele Tausende von Ermittlungsverfahren, Prozessen und Verurteilungen zur Folge hatte. Davon wurden nicht nur Kommunisten, sondern auch viele Demokraten aus allen politischen und religiösen Kreisen betroffen.

Jupps Leben ist auch ein Dokument des erfolgreichen Widerstandes gegen diese Entwicklung. Demokratische Gegenkräfte entstanden. Der Stockholmer Appell zur Ächtung der Atombombe und die Forderung nach einer Volksbefragung gegen die Remilitarisierung fanden breiten Widerhall. Die DKP konstituiert sich 1968 als legale Kommunistische Partei. In der Gesellschaft wuchs der Widerstand gegen die Rechtsentwicklung, gegen Völkerverhetzung und Fremdenfeindlichkeit, gegen Kriegs- bzw. sog. Auslandseinsätze der Bundeswehr, gegen den zunehmenden Sozialabbau und Umweltgefährdung, gegen atomare Gefährdung.

Die Geschichte von Jupp Angenforts „Sprung in die Freiheit“ endet 1969. Wer die Zukunft demokratisch gestalten will, muss sie weiterschreiben! Mit dem Zusammenbruch der ehemals so genannten sozialistischen Länder ist keinesfalls die sozialistische Alternative verschwunden, sondern nur ein Beispiel, das man nicht wiederholen sollte. Dabei darf nicht vergessen werden, dass deren Existenz seit der Oktoberrevolution 1917 der Welt Frieden gebracht und einen Weltkrieg verhindert hat. „Frieden ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Frieden“ – so heißt ein Spruch, der an erster Stelle einer glücklichen Zukunft steht.

Sozialismus kann nur eine Höherentwicklung der Demokratie sein, er kann nicht von oben eingeführt werden, er muss durch immer mehr Demokratie in Wirtschaft und Gesellschaft, im Kampf gegen Profitwirtschaft und Militarisierung nach Innen und Außen erreicht werden.
Hermann Krüger
Dieser Artikel ist erschienen in Z. Nr. 87, September 2011